Germany first – ja, warum denn nicht?

 

Von Jacques Schuster | Veröffentlicht am 29.01.2017

 

Für deutsche Ohren klingt „America first“ wie eine Kriegserklärung. Verbunden mit der aggressiven Schlichtheit des neuen Präsidenten, der offenbar glaubt, gute Reden seien ohne einen Schwall von Imperativen, dem Geruch von Pulverdampf und einem Blick aus zugekniffenen, scharf zielenden Augen nicht denkbar, halten die Deutschen den Ruf „Amerika zuerst“ für ein Wort aus der Welt von gestern. 

Es erinnert sie an Hurrapatriotismus, Chauvinismus und die erste Strophe des Deutschlandlieds. Mit Blick auf Donald Trump mögen die Deutschen nicht falsch liegen. Doch auf dem richtigen Pfad wandeln sie auch nicht. Eher latschen sie mal wieder auf einem „Sonderweg“. 

Briten und Franzosen, Polen und Italiener – um nur die größeren Nachbarn zu erwähnen – haben keinerlei Probleme damit, wenn ihre Staats- und Regierungschefs der Welt verkünden: Großbritannien, Frankreich, Polen und Italien zuerst!

 

Keine Tanzstundenartigkeiten

Und selbst die Bundeskanzler heben vor dem versammelten Parlament feierlich die Hand und versichern, dass es ihnen um das „Wohl des deutschen Volkes“ geht. Der Amtseid des Regierungschefs setzt ein „Deutschland zuerst“ als selbstverständlich voraus. Auf welche Weise ließen sich sonst deutsche Bedürfnisse vertreten – ob bilateral, im europäischen Verbund oder auf den Bühnen der Weltpolitik. 

„Politische Einheiten bemühen sich, einander ihren Willen aufzuerlegen“, schreibt der große französische Soziologe Raymond Aron in seinem Standardwerk über „Frieden und Krieg“. Der Satz gilt unter Freunden genauso wie unter Feinden, in den Vereinten Nationen ähnlich wie an den Brüsseler Konferenztischen. 

Arons „Theorie der Staatenwelt“ sollten diejenigen lesen, die meinen, Außenpolitik ließe sich allein mithilfe von Tanzstundenartigkeiten betreiben. Wer so denkt, wird scheitern.

 

Rücksichtslose seien gewarnt

Doch auch der Rücksichtslose sei gewarnt. Wer auf Dauer dem Irrwahn des Rechthabens frönt und sich Stahlkappen an die Ellbogen schnürt, der wird über kurz oder lang in einer Tanzstundenecke erfolglosen sitzen. 

„Einander den Willen aufzuerlegen“, wie Aron schreibt, setzt freilich voraus, genau zu wissen, was der eigene Wille ist. Die Deutschen haben damit Probleme. Das Wort „Interesse“ vermeiden sie, und wenn die Politiker es mit Blick auf die Außenpolitik doch einmal in den Mund nehmen, dann flüstern sie es gaumentrocken, fast heiser und verlegen. 

Über deutsche Interessen öffentlich zu sprechen, schickt sich nicht. Leider führt das Tabu dazu, dass über diese Interessen nicht einmal nachgedacht wird – fast so, als sei das „Ende der Geschichte“ erreicht und ein paradiesisches Zeitalter angebrochen.

 

Es gibt keinen Garten Eden 

Nur der letztendliche Frieden ist ein Zustand der Konfliktlosigkeit, in dem der Gegensatz der Interessen aufgehoben ist, weil die Interessen selbst in eben diesem Paradies untergegangen oder gänzlich einhellig geworden sind. Kurzum, solange den Menschen der Garten Eden verschlossen bleibt, solange sollten auch die Deutschen über ihre Interessen nachdenken. 

Wer glaubt, sie täten es, sie sprächen nur nicht darüber, der mag zu einem kleineren Teil recht haben – die Fachleute reden von der pfiffigen Taktik des „leading from behind“ –, zu einem größeren Teil aber irrt er. 

Der Beleg dafür ist leicht erbracht: Man besuche an einem beliebigen Wochentag das Berliner Regierungsviertel und frage deutsche Diplomaten und Politiker nach den politischen Interessen (nicht den wirtschaftlichen!), die Deutschland etwa gegenüber der Volksrepublik China besitzt. Außer einem Phrasenschwall wird man keine Antwort erhalten. 

Noch schwieriger wird es, wenn man die Damen und Herren nach den eigenen Interessen in Europa befragt. Zunächst werden sie versuchen, dem Ball eine kleine Drehung zu geben, indem sie im Namen von Europa reden. Wer dann auf der Frage beharrt, der nimmt vor allem eines wahr: Verlegenheit.

 

Machtbesessen, machtvergessen 

Welches Europa darf es sein? Noch immer ist die Politik Hermann Lübbe eine Antwort schuldig. Bereits 1994 fragte der Philosoph, ob ein mögliches Ende der europäischen Bundesstaatsidee als Scheitern oder als ein Abschied von einem Irrweg gewertet werden würde. Lübbe glaubte Letzteres. Und die deutschen Politiker? Schweigen im Walde – oder im Tiergarten, um im Berliner Bild zu bleiben. 

Es liegt an der Vergangenheit, unserer nationalistisch-germanischen Vergangenheit, der Verherrlichung der Rasse, dem großen „Gemeinheitsrausch“, von dem Alfred Weber sprach. In nur zwölf Jahren verwandelte diese Verherrlichung der Rasse Europa und Deutschland in ein Massengrab. 

Bis heute führt diese Vergangenheit dazu, dass Selbstverständlichkeiten wie das Aussprechen von Interessen, das offene Bekenntnis für den Vorrang der eigenen Gesellschaft in Deutschland keine sind. „Von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit“ sprach Hans-Peter Schwarz schon Ende der 80er-Jahre. 

Seitdem hat sich zwar vieles getan. Die Deutschen sind bereit, weltweit mehr Verantwortung als früher zu übernehmen, noch immer aber fällt es ihnen schwer, offen zu sagen, was sie wünschen und welche Rangfolge diese Begehrlichkeiten haben sollen.

 

Neue Unübersichtlichkeit 

Dabei haben sie mit der Bundesrepublik endlich einen Staat geschaffen, der durch und durch zivil ist. In den Worten des Sozialdemokraten Peter Glotz: „Wir mussten das große Tier (Deutschland) zähmen. Es ist uns gelungen.“ 

Diese Tatsache könnte uns mehr Selbstvertrauen verleihen. Sie tut es nicht. Dabei spürt fast jeder wache Geist, und das nicht erst, seitdem Trump ins Weiße Haus zog: Das Goldene Zeitalter der Sicherheit, des gemeinsamen Handelns, das große Wohlfühlprogramm für Europa ist vorüber. 

Die neue Unübersichtlichkeit macht es dringlicher denn je, zunächst für sich selbst zu wissen, welchen Interessen man nachgeht und für welche dieser Bedürfnisse man notfalls sogar den Alleingang wagt. „Wir werden uns abgewöhnen müssen, von allem und jedem geliebt zu werden“, mahnt Herfried Münkler zu Recht. 

Gleichzeitig hebt der Berliner Politikwissenschaftler hervor, es sei ein Irrweg zu glauben, „die politisch bequeme Rolle des leading from behind“ ließe sich in dieser Welt, in diesem Europa fortsetzen. Offene deutsche Führung sei nun gefragt.

 

Nie wieder Aggression 

Sie hat nichts mit den Entartungen der Nazizeit zu tun. Sieben Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs setzt sich Führung aus verschiedenen Kräften zusammen: dem Friedenswillen und dem Machtinstinkt, dem Sinn für die eigenen Interessen und dem Respekt vor den Wünschen der anderen, der machtbewussten Eindämmung der weltweiten Anarchie und dem Willen, internationale Ordnungssysteme aufzubauen, schließlich dem Bewusstsein, dass nicht „Nie wieder Krieg“ die Lehre aus der deutschen Geschichte ist, sondern „Nie wieder Aggression“. Ein folgenreicher, bedeutender Unterschied! 

Deutsches Interesse in Europa heißt unter anderem, den Laden in einer Form zusammenzuhalten, die den eigenen Zielen entspricht und das, was von ihm bleibt, politisch, wirtschaftlich und militärisch so auszustatten, dass er nicht von fremden Mächten gesteuert wird. Das wiederum bedeutet unter anderem, entschlossen aufzurüsten. 

Sollten sich die Vereinigten Staaten aus Europa zurückziehen, wäre es mit einem Verteidigungsetat von zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes als deutsches Fernziel nicht getan. Gegenwärtig sind es jämmerliche 1,3 Prozent. Mindestens vier Prozent wären dann für jeden europäischen Staat nötig.

 

Gemeinsam sind wir stark 

Wäre das heutige Europa – verkalkt, wie es ist, wehrlos gegen Brutalität und Tyrannei, seiner selbst unsicher und zugleich ein ersehntes Ziel Millionen Leidender – dazu noch fähig? Nur wenn es von einem Staat als Erster unter Gleichen geführt wird, der die Kraft dazu beisitzt, sich seiner halbwegs sicher ist, fest im westlichen Werterahmen steht, über ein gesundes Selbstbewusstsein verfügt und die Grenzen seiner Mittel kennt. 

Deutschland könnte dieser Staat sein – nicht, damit am deutschen Wesen der Kontinent genesen soll, sondern damit sich Europa die Freiheit und Werte bewahrt, die es seit Langem genießt. Wer „Germany first“ ernst nimmt, wird schnell begreifen, dass, mit Blick auf die eigenen Interessen, Deutschland nur in der Partnerschaft mit seinen Verbündeten gedeihen kann. 

„Germany first“ heißt nicht Alleingang, sondern: „Gemeinsam sind wir stark“ und: „Fragt nicht, was Europa für euch, fragt, was ihr für Europa tun könnt.“ Und das aus purem Eigeninteresse heraus. Ein starkes Deutschland, allein in der Mitte Europas, wäre heute nicht mehr als ein Sandkorn am Ufer des Geschehens.